Ein Interview mit Valentina Petrillo, geführt von Hanna Stepanik (VIDC/fairplay).
Erste Transgender-Frau nahm an den Paralympischen Spielen 2024 in Paris teil
Valentina Petrillo ist eine italienische Leichtathletin, die als erste Transgender-Frau an den Paralympischen Spielen 2024 in Paris teilgenommen hat. Sie hat 95 Prozent ihres Sehvermögens verloren.
Sie ist mit ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit nicht nur eine herausragende Sportlerin, sondern eine wichtige Stimme für Inklusion im Sport. Im vorliegenden Interview sprach sie offen über ihre persönlichen Herausforderungen, ihre Motivation und ihre Vision für eine gerechte Zukunft.
Valentina, du warst letztes Jahr 2023 als Gästin beim This Human World Festival in Wien. Dort haben wir einen Dokumentarfilm über dein Leben gedreht. Elisa Merghetti gilt dabei als Filmregisseurin.
Was war deine Erfahrung dort, und wie hast du die Veranstaltung wahrgenommen?
Valentina Petrillo: Das Festival war wunderschön, und ich habe mich sehr wohl gefühlt. Aber es gab einen Moment, der mich besonders beschäftigt hat:
Ich habe mich in Wien verlaufen! Es war Winter, es schneite, mein Telefon war kaputt, und ich konnte die Straßenschilder nicht erkennen. Ich hatte Angst, aber die Menschen waren unglaublich hilfsbereit und halfen mir, den Weg ins Kino zu finden. Wie wichtig Solidarität und Unterstützung sind, zeigte mir dieser Moment, in einer Stadt, in der ich mich zunächst fremd fühlte.
Solche Erfahrungen bleiben oft lange im Gedächtnis. In deiner Karriere hattest du sicher ähnliche prägende Momente. Gibt es einen, der dich besonders beeinflusst hat?
Valentina Petrillo: In den Sinn kommt mir sofort der Moment, an den Paralympischen Spielen 2024 in Paris teilzunehmen. Als ich meinen Namen hörte und die 90.000 Menschen im Stadion jubelten, war das unbeschreiblich.
Es fühlte sich an, als würde das Publikum nicht nur mich, sondern die Idee einer vielfältigeren und inklusiveren Zukunft feiern. Es war einer dieser seltenen Augenblicke, in denen ich spürte, dass mein Weg – mit all seinen Herausforderungen – einen Unterschied macht.
Dein Weg war sicher nicht immer leicht. Wie gehst du mit schwierigen Tagen um, an denen die Herausforderungen übermächtig erscheinen?
Valentina Petrillo: Ich habe einen Mentalcoach, der mir geholfen hat, mich auf meine Wettkämpfe zu konzentrieren. Er hat mir Techniken beigebracht, um mich zu fokussieren, und ich habe gelernt, mich ein bisschen von allem zu distanzieren. Als das Klima um mich herum bedrückend war, war es in den letzten Monaten, mit selbsterlebten sozialen Angriffen, besonders.
Ich habe auch gelernt, mich zu beruhigen, indem ich ein Lied singe, wenn ich mich unwohl fühle. Es heißt „’O soldato ‘nnamorato“, ein klassisches neapolitanisches Lied. Es erinnert mich an meine Kindheit, als ich Maradona im Stadion sah, als Napoli den ersten Scudetto gewann. Das war meine letzte Erinnerung an mein Augenlicht, bevor ich es verlor.
Das klingt nach einer sehr persönlichen und emotionalen Verbindung zu diesem Lied. Kannst du uns mehr über deine Sehbehinderung erzählen?
Valentina Petrillo: Ich war 14, als die Ärzt*innen bei mir Morbus Stargardt diagnostiziert haben. Es ist eine seltene genetische Krankheit, die mein Sehvermögen nach und nach zerstört hat. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte ich praktisch normal sehen. Damals reiste ich nach Paris, um mich von einem Spezialisten behandeln zu lassen, weil die Krankheit kaum bekannt war. Paris hat für mich eine doppelte Bedeutung. Es ist der Ort, wo ich die Diagnose erhielt. Jetzt, viele Jahre später, kehrte ich für die Paralympics hierher zurück.
Diese Rückkehr nach Paris macht deine Teilnahme an den Paralympics noch bedeutungsvoller. Was bedeutet es für dich, dabei zu sein und deine Geschichte zu teilen?
Valentina Petrillo: Es bedeutet, dass ich Freiheit und Akzeptanz erfahren kann, nicht nur für mich, sondern hoffentlich auch für andere. Ein gutes Leben besteht für mich vor allem aus der Freiheit, wir selbst zu sein, ohne Angst vor Diskriminierung. Unsere Unterschiede machen uns einzigartig, das sollten wir feiern. Wenn ich den Mut hatte, mich vor 90.000 Menschen zu zeigen, dann können das auch andere.
Deine Geschichte inspiriert viele, aber es gibt auch Stimmen, die sagen, Sport und Politik sollten getrennt bleiben. Wie stehst du dazu?
Valentina Petrillo: Sport ist niemals wirklich getrennt von Politik. Allein meine Teilnahme ist ein politisches Statement, weil sie zeigt, dass Vielfalt möglich ist. Viele Vorurteile beruhen auf Unwissenheit. Studien belegen, dass ich keinen körperlichen Vorteil habe, aber es gibt noch zu wenig Daten zu transgender Personen im Sport. Die geschnürte Angst hat oft keine wissenschaftliche Grundlage, sondern ist reine Transphobie.
Denkst du, dass Athlet*innen ihre Plattform nutzen sollten, um über Themen wie Gleichberechtigung und Menschenrechte zu sprechen?
Valentina Petrillo: Ich habe das Gefühl, dass Athlet*innen, bevor sie mich kennen, eine Menge Vorurteile haben. Mit der Zeit bekommen wir mehr Wissen, die Leute erhalten mehr Informationen und erkennen, dass die Fakten anders liegen. Was man nicht weiß, macht Angst, und deshalb ist es wichtig, sich zu informieren.
Ich glaube, dass die anderen Athlet*innen das mittlerweile verstanden haben und mir heute offener gegenübertreten können. Ich erinnere mich an ein besonderes Erlebnis bei den Wettkämpfen, als ich mit einem iranischen Mädchen lief. Ihr Name ist mir leider entfallen, aber ich erhielt die Information, dass sie mir gegenüber sehr nette Aussagen gemacht hat. Das ist für mich besonders. Denn der Iran ist ein Land, wo die politischen Verantwortlichen im Staat die Frauen oft an den Rand drängen.
Die Plattform als Athlet*innen für Gespräche über Gleichberechtigung und Menschenrechte zu nutzen, ist meiner Meinung nach wichtig. Die Athlet*innen kämpfen auch für jene, die keine Stimme haben, oder es nicht zeigen können. Wenn ich, als trans Frau, den Mut habe, vor 90.000 Menschen zu laufen, dann können das auch viele andere tun.
Wie bewertest du die aktuellen Entwicklungen in Bezug auf Inklusion im Sport?
Valentina Petrillo: Leider entscheiden einige Sportverbände, insbesonders World Athletics und World Aquatics, sehr restriktiv über die Teilnahme von transgender Athlet*innen. Diese Regelungen stehen im Widerspruch zu den IOC-Richtlinien, die eigentlich auf Inklusion abzielen. Die neuen Vorgaben verlangen, dass die Transition vor der Pubertät beginnt – etwas, das praktisch unmöglich ist.
Diese Richtlinien sind nicht nur unpraktisch, sondern auch ethisch bedenklich. Wir sprechen hier davon, dass Kinder sich vor ihrem zwölften Lebensjahr eine Hormontherapie unterziehen, um am Sport teilnehmen zu dürfen. Aber wie können wir das von einem Kind verlangen? Ein Kind sollte keine medizinischen Entscheidungen treffen müssen, die sein ganzes Leben betreffen, nur um Zugang zum Sport zu haben.
Das betrifft nicht nur die sportliche Ebene, sondern öffnet eine tiefere medizinethische Debatte. Es ist der Körper eines Menschen. Niemand sollte unter Zwang, etwas mit seinem Körper tun, was er oder sie nicht möchte. Wir sprechen hier nicht nur über Sport. Es geht hierbei um grundlegende Menschenrechte und das Recht, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen.
Ich glaube fest daran, dass Inklusion im Sport möglich ist. Wir sehen es in anderen Bereichen, warum also nicht auch im Leistungssport? Es gibt Lösungen, die für alle fair sind. Aber sie erfordern den Willen, wirklich etwas zu verändern.
Welche Erfahrungen hast du mit dem Internationalen Paralympischen Komitee gemacht?
Valentina Petrillo: Meine Erfahrungen waren durchwegs positiv. Ich hatte die gleiche Behandlung wie alle anderen Athlet*innen, und das ist der Schlüssel. Es klingt kompliziert, aber es ist ganz einfach: Behandle uns wie alle anderen auch. Wir sind keine Bedrohung. „Take it easy“, wie man so schön sagt.
Vielen Dank, Valentina, für deine Offenheit und deine inspirierenden Worte.
Bild und Text: Gaustautorin Michaela Wengler, und Hanna Stepanik (VIDC/fairplay), Initiative Fairplay.